Gemeint ist jener Ortsteil im Süden Martfelds, wo erst seit etwa 175 Jahren Häuser stehen. In den "Martfeld-Live"-Ausgaben von Dezember 1997 und 1999 hat Hartmut Bösche in seinen Straßengeschichten die alten Strukturen der Landschaft beschrieben und auf die Entwicklung der Straßen hingewiesen. Auch hat er den Ursprung des Namens "Stühr" erklärt, der schon früher den Standort der drei ersten Häuser am Südende bezeichnete. Die erhielten 1753 mit der Einführung der Feuerversicherung die Hausnummern 1, 2 und 3 in Martfeld (ebenfalls im Bd. III der HW Heimatschriften nachzulesen!)
Hier ist die Besiedlung nach der erfolgten Gemeinheitsteilung (nach 1830) beschrieben. 34 Stellen sind auf den 3 angrenzenden Landschaftsteil von 1826 bis zum 2. Weltkrieg entstanden. An den fortlaufenden Feuerstellennummern, die im Brandkataster seit 1753 aufgeführt sind, ist zu erkennen, dass die Bebauung recht langsam fortgeschritten ist. Seit 1987 sind in Martfeld diese Nummern mit der Einführung der Straßennamen durch jeweilige neue Hausnummern ersetzten. Ein Vergleich der Karten der Kurhannoverschen Landesaufnahme von 1771 mit der Preußischen Landesaufnahme von 1897 läßt die Kultivierung der Landschaft mit dem Anbau deutlich erkennen.
Zum "neuen" Stühr gehören nicht nur die Umsiedler und Anbauer von "Auf dem Stühr", der neuen Straßenbezeichnung, wie die der "Bruchhauser Straße" nach der Hausnummer 1 a (heute 14), sondern auch die vom "Normannshauser Weg" bis zum Kanal und die beiden ersten Anbauer im "Mühlenbraken" zur Stührseite hin. Die Namen der Menschen, die diese Häuser bauten und bewohnten sind zum großen Teil heute schon unbekannt. Mancher hatte keine Nachkommen, oder sie zogen fort Auf dem Friedhof sagen keine Grabsteine mehr etwas von ihrem Dasein auf dem Stühr aus. Das Besondere an diesem neuen Ortsteil ist aber, dass nach dem letzten Anbau vor dem Krieg 1914/18 das Straßenbild sich nicht mehr verändert hat. Da stehen die Häuser noch in der selben Reihe und am gleichen Platz, wo sie zuerst gebaut wurden Zwischen den beiden Kriegen fanden 1924/25 und 1932 zwei Anbauer in der Mühlenbrake eine Heimat, zwei Anwesen kamen 1926 und 1939 an der Bruchhauser Straße hinzu. 1959 gab es dort noch einen Neubau auf dem Grundstück von Zimmermann Brinkmann für seinen zweiten Sohn. Seitdem ist auf dem Stühr, im Gegensatz zu der Martfelder Heide, die zur selben Zeit die erste Besiedlung erfahren hat, Anbauruhe. Bis jetzt!
Nun stehen und standen Plakate in Wiesen, die Bauplätze empfehlen. Das war der zweite Hinweis, über diesen Ortsteil nachzudenken. Schon im Jahre 2000 ließ ein Verkaufsangebot auf dem Grundstück Nr. 151 (früher Christian Schmidt am Weg nach Normannshausen) aufmerken und Nachfragungen über die Entstehung der Häuser stellen und dann deren Anbaudaten allesamt finden. Die Häuser der ersten Anbauer haben ihr Aussehen in den letzten 50 Jahren allerdings z.T. sehr verändert. Oft soll das nur mit großem Behördenkampf möglich gewesen sein, erzählten Betroffene. Auf dem Stühr sollte das Ursprüngliche erhalten bleiben und kein Neubau stattfinden.
Das Fachwerk mit dem Strohdach war bei den ersten Umsiedlern und Anbauern noch üblich. Erst nach dem großen Brand in der Martfelder Ortsmitte im April 1881 wurden die Steinhäuser mit Dachziegeln vermehrt gebaut. Auf dem Stühr entstanden von zwei Aussiedlern, die vom Brand betroffen waren, solche Neubauten; Nr. 34 und Nr. 199. Vor und nach der Jahrhundertwende kamen etliche hinzu. Doch einige Anbauer errichteten aus Kostengründen weiter ein anderswo abgebrochenes Fachwerkhaus zum Wohnen, so wie es die ersten meist vor ihnen getan haben. Da läßt das alte Holzgefüge oder eine eingeschnitzte Jahreszahl oft einen viel älteren Anbau vermuten, als er wirklich geschah. Einige von diesen Häusern haben nach dem 2. Weltkrieg Steinpfannen für das Strohdach erhalten. Das Fachwerk wurde ummauert. Die hölzernen Dielentüren wurden durch gläserne Eingänge oder Fenster ersetzt. Die einzelnen Fenster wurden zu großen Scheiben vereint (die wunderbarerweise heute z. T. schon wieder zurückgemauert werden).
Einige alte Fachwerkhäuser bekamen ein steinernes Hinterhaus mit hohen Räumen oder sind für eckige Wohnblocks abgerissen worden. Hier wurde ein altes Wagenschauer weggerissen, dort eine Scheune oder ein Schuppen dazugebaut, ohne doch die Struktur der Hausstelle zu verändern. Aber statt der Misthaufen, die noch vor 50 Jahren vor jedem Hause lagen, blühen und grünen heute Blumen und Büsche auf den Vorhöfen, oder sie haben eine Rasenfläche bekommen. Weder Ziege; wie einst so viele; noch Kuh; noch Schwein findet man mehr auf den Brinksitzer- und Anbauerstellen. Nur die vielen Kühe auf den Weiden um Lucken - Homfelds Haus zeigen, dass es durch diesen Betrieb noch ein bäuerlicher Ortsteil ist. Die früher als Sulinger-Verdener bezeichnete Landstraße liegt nun als die Bruchhauser Straße unverändert breit zwischen den Häuserreihen; so wie sie vor gut hundertfünfundzwanzig Jahren angelegt wurde. Das zeigen die begrenzenden Lindenbäume, die bald nach der ersten Bepflasterung 1872/75 gepflanzt worden sind. Vor 50 Jahren lief am Steinweg auf der einen Seite ein Sandweg, gegenüber ein Pattenweg nebenher. Davor sah man jahrelang Nordhausen Becka (aus dem Haus in der Kurve nach Hollen/ Kleinenborstel mit großem Hut und Handschuhen, wie sie ihre Kuh am Strick das Gras zwischen den Bäumen abgrasen ließ.
Heft 25 18-22